Johannes Kaminski ist Literaturwissenschaftler. Seine Arbeitsfelder sind die Goethezeit und ihr widersprüchliches Erbe, spekulative Literatur im Zeichen des Anthropozäns sowie der transkulturelle Dialog zwischen europäischer und chinesischer Literaturgeschichte.

Im Mittelpunkt meiner Forschung steht die Brüchigkeit der Kunst der Interpretation. Wie einigen wir uns darüber, was ein Text aussagt? Was vermag Literatur in einer Zeit zu leisten, in der Wissen und Wirklichkeit immer weiter auseinanderdriften?

Buchpräsentation im Goethe Institut Bratislava, 22. April 2024

Adam Bzoch wollte wissen, weshalb es 2024 notwendig ist, ein neues Buch über den sattsam bekannten Werther zu lesen.

Neue Buchpublikation:

Lives and Deaths of Werther: Interpretation, Translation and Adaptation in Europe and East Asia. Oxford University Press, 2023

Goethes Briefroman Die Leiden des jungen Werther, erstmals 1774 veröffentlicht, gehört nicht länger seinem Autor, sondern seinen Lesern. Während das Buch im deutschen Kontext stets von seinem berühmten Autor überstrahlt wurde, der sich im Rückblick eher abwertend über dessen Genese und Krankhaftigkeit ausgelassen hat, veranschaulicht die globale Rezeption von Werther die Offenheit des Textes. Im Italien der 1790er sowie im China der 1920er sahen patriotische Schriftsteller ihr Leiden an einer unzureichenden Gegenwart gespiegelt. Die französischen Romantiker nutzten indessen Werthers ausdrucksstarke Sprache, um die dunklen Ecken der Psyche zu erkunden. Ähnliches geschah in Japan, wo sich die Modernisten auf den Text beriefen, um zu zeigen, dass “der schönste Moment des Lebens - nämlich die Liebe - in der in der Nähe des Todes" angesiedelt ist. In dieser Studie untersuche ich, wie Interpretationen, Übersetzungen und Bearbeitungen den Text in einer Weise manipulierten, die tiefe Spuren in der Weltliteratur hinterließ.

“Werther und Lotte im chinesischen Bürgerkrieg, ca. 1920” (Bild erzeugt von Midjourney)

Ankündigung

Dreams in Chinese Fiction: Spiritism, Aestheticism, and Nationalism. London: Routledge, 2024

In der chinesischen Tradition dokumentieren literarische und philosophische Texte ein umfangreiches Spektrum an Traummöglichkeiten: angefangen mit Zhuangzis vielzitiertem Schmetterlingstraum, über die Begegnung von Liebenden, die füreinander bestimmt waren, sich aber leider nie trafen, bis hin zu Episoden sexueller Verdrängung, die dem westlichen Leser vertrauter sind. Im zeitgenössischen Politikjargon der Kommunistischen Partei Chinas erlebt das Traum-Motiv einen seltsame Renaissance. Im Anschluss an Herrscherträume der Antike sowie die Traumreisen der utopischen Literatur des 19. Jahrhundert prägte Xi Jinpings die vage Formel vom "Chinesischen Traum".

Holzschnitt-Illustration von “Mu Dan Ting” aus der Ming-Zeit